Die Luftschutzsirenen heulten. Der ohrenbetäubende Lärm, und die drohende Gefahr herabfallender Bomben trieb die Menschen in Schutzbunker und Verstecke, die sie versuchten, eilends aufzusuchen. Bomben schlugen ein, zerstörten Häuser und Menschen, die wimmernd am Boden lagen, blutend, die Gedärme aus ihnen heraustretend.

Eine junge Frau lief über den Schutt zerbombter Häuser, und blickte sich um. Sie hatte Angst. Angst vor den zwei Männern, die wenige Schritte hinter ihr her liefen. Beide trugen Uniformen der SS, der Leibstandarte Adolf Hitlers.

Ihre schwarzen Uniformen durch die offenen schwarzen Ledermäntel unzureichend verdeckt, waren trotz des um sie liegenden Schmutzes sauber.

Der Ältere der beiden Männer hatte blonde, kurzgeschnittene Haare, blaue Augen, und eine Mensur, die sich von seinem linken Auge bis zu seinem Mundwinkel hinzog. Er hinkte etwas, was er durch hastige Bewegungen beim Laufen versuchte, wett zu machen. Der Jüngere der Männer, ebenfalls mit kurzgeschnittenen blonden Haaren, hatte rot leuchtende Augen, Augen, die sie wissen ließ, dass beide keine normalen SS- Schergen waren.

„Wir haben sie gleich“, sagte der Jüngere zu dem Älteren!

Der nickte, und versuchte, so gut er konnte, seinem jüngeren Kollegen zu folgen.

Die junge Frau rannte, eine Bombe, die wenige Meter vor ihr eingeschlagen waren, brachte mehrere Bäume zum Einsturz. Einer fiel direkt vor ihren Füßen, und ließ sie vor Schreck aufschreien.

Der Ältere grinste.

Seine Augen wurden plötzlich rot, und seine Stimme tief und kehlig. „Gib auf, Hexe! Du hast keine Chance mehr! Ergib dich deinem Schicksal!“

„Nein“, erwiderte sie. „Wo noch Hoffnung ist, ist auch Kraft, das Böse zu besiegen.“

Sie sprang über den eingestürzten Baum, stolperte, raffte sich auf, und lief weiter. Ein Mann, der ihr entgegen kam, wurde von ihr umgerissen, so dass er fiel. Sie murmelte eine Entschuldigung, während sie weiter lief.

„Haltet die Frau fest“, schrie der Jüngere. „Sie ist eine Spionin!“

Zwei Soldaten, die gerade um die Ecke kamen, wollten sie festhalten, doch mit einer leichten Handbewegung der jungen Frau flogen sie beide in weitem Bogen zu Boden. Sie rannte weiter, während die beiden Männer sich ansahen.

„Sie hat schon ihre Kraft, diese Hexe“, sagte der Ältere. „Wir müssen jetzt verdammt vorsichtig sein, sonst sind wir diejenigen, die versagt haben, und die Hanim zu Verantwortung ziehen wird. Und du weißt, was das bedeutet!“

Der Jüngere wusste es!

Sein bester Freund, der versucht hatte, einen Auftrag Hanims zu erledigen, und scheiterte, wurde aufgelöst, und dadurch nie wieder existent.

Sie liefen der jungen Frau, die sie eine Hexe nannten, hinterher.

Die junge Frau, sah, wie viel Menschen auf ein Gebäude zustürzten, und lief ebenfalls dorthin, in der Hoffnung, sich im Schutz der Masse verstecken zu können.

Es gelang ihr, im Schutz der vielen Menschen sich in der Ruine eines von Bomben zerstörten Gebäudes zu verstecken. Die beiden Männer suchten sie im Pulk der anderen Menschen, die auf dem Weg zum nächsten Bunker waren, und konnten sie nicht finden.

Sie fanden sie nicht, und so sagte der Ältere: „Mist, sie ist verschwunden!“

Der Jüngere blickte sich um, und nahm wie ein Jagdhund die Witterung auf. „Da in dem Gebäude ist sie“, sagte er, und deutete auf ein halb zerfallenes Gebäude. Sofort stürmten beide los.

Wenige Augenblicke später standen sie an der zerbombten Tür, stießen die Reste beiseite, und traten ein. Schutt und Asche, der Geruch von verbranntem Menschenfleisch und verwestem Moder drang an ihre Nasen. Der Jüngere deutete nach oben, und so gingen beide die morsche Treppe hinauf, und durchsuchten jede Wohnung, die sie in der ersten Etage sahen. Aber die Frau war nirgendwo zu sehen!

Der Jüngere durchsuchte jeden Raum, drehte jeden Stein und jedes Möbelstück um, aber so sehr er auch suchte, er fand nichts. Dann hörte er ein leises, unterdrücktes schmerzvolles Aufstöhnen. Er folgte dem Geräusch, und gelangte in ein zerbombtes Bad, in dem die junge Frau lag.

Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen, um ihren Arm, der anscheinend gebrochen war, ruhig zu stellen. Ihr leuchtend rotes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte, hing wirr in ihrem runden Gesicht herum, ein Gesicht, das ohne Make up, aber mit vielen Sommersprossen behaftet war.

„Hier ist sie“, rief der Jüngere, und wenige Augenblicke später kam der Ältere hereingeschwebt, und landete sanft neben seinem Partner, der sich grinsend vor der jungen Frau aufstellte.

„Wo ist es, Hexe?“

„Wo ist was“, erwiderte die junge Frau ängstlich?

„Du weißt genau, was wir meinen, Hexe! Das Orakel von Delphi!“

„Aber ich habe es nicht“, erwiderte sie, und hatte dabei nicht einmal gelogen! Sie hatte das Orakel, eine kleines Medaillon, in dem ein Loch, durch das ein braunes Lederhalsband gezogen wurde, um es um den Hals tragen zu können, im Keller dieses Gebäudes versteckt. Niemand hatte sie dabei beobachtet, und auch die beiden Dämonen konnten es nicht finden, weil sie es durch einen Schutzzauber gesichert hatte.

Sie lächelte.

Dann sang sie ein Lied, kontrollierte ihren Atem, so dass sie sterben musste, denn sie wusste, was die Dämonen mit ihr machen würden! Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die beiden anderen Hexen, mit denen sie im Dienste der Göttin für alle Frauen dieser Welt arbeiteten, und die ihre besten Freundinnen waren; von Dämonen gefoltert und getötet wurden.

Sie, Nora Kowalke, war die letzte der drei Hexen.

Sie dachte an ihre Tochter, die ebenfalls Nora hieß, die sie bei einer Freundin in Sicherheit

gebracht hatte, bevor sie sich auf den Weg machte, das Orakel von Delphi in Sicherheit vor

Hanim und seinen Dämonen zu bringen. Denn Hanim durfte das Orakel nie in seine Hände bekommen! Die Folgen für die Menschheit wären schrecklich!

Dann starb sie, nachdem sie sich einmal kurz aufbäumte.

„Sie ist tot“, sagte der Ältere. „Sie muss das Orakel irgendwo hier versteckt haben. Lass uns also mit der Suche beginnen“!

Sie suchten, fanden aber nichts! Und weil sie nichts fanden, zerstörte Hanim sie.

 

 

Es war eine wunderschöne Nacht gewesen, fand Anna!

Sie war in einer Frauenbar gewesen. Hatte getanzt, geflirtet und auch einen One- Night- Stand gehabt, der sie sehr befriedigte, auch, wenn er nur auf der Toilette der Bar stattgefunden hatte.

Nun war sie auf dem Weg nach Hause. Ihr altersschwacher Japaner fuhr, was sie immer wieder in Erstaunen versetzte, sie jedes Mal sicher ans Ziel. Nur selten hatte er eine eigene Meinung, und blieb stehen.

Eine junge Frau, anscheinend leicht angetrunken, versuchte, die breite Strasse zu überqueren, aber jedesmal lief sie wieder zu ihrem Ausgangspunkt, ein Halteverbotszeichen, zurück. Anna lächelte.

Zu gut kannte sie diesen Zustand der seligen Trunkenheit, in dem weder die Koordination noch die Blase, weder das Gehirn noch die Zunge wussten, was sie zuerst tun sollten. Ihre Gedanken wanderten zurück, als Nora, Gerlinde und sie aus Lübeck zurückgekommen waren, und sie, um den ganzen Schrecken für einen Augenblick zu vergessen, zu tief ins Glas geschaut hatten!

Die Zungen von allen war gelöst, und sie verspürte an diesem Abend den Wunsch, mit Nora zu schlafen. Nur ihr Wissen, das Nora auf Männer stand, hielt sie davon ab, sie zu küssen. Plötzlich kam ihr eine alte Liebesschnulze ins Gedächtnis. „Kiss me once, kiss me twice, and kiss me once again“, und sie summte den Song auch noch vor sich hin, als sie in die Straße einbog, die zu ihrer Wohnung führte.

Sie fuhr in die Tiefgarage, die zu ihrem Wohnblock gehörte, stieg aus, und schloss den Wagen ab. Mit schnellen Schritten lief sie nach oben in ihre Wohnung. Sie war aufgedreht, wollte die Nacht zum Tage machen. Zu Hause Musik hören, tanzen und trinken. Und träumen. Von Nora träumen, dieser wundervollen schönen jungen Frau, in die sie sich verliebt hatte.

Nach wenigen Minuten, die ihr wie Stunden erschienen, öffnete sie die Wohnungstür, schmiss das Schlüsselbund auf die Kommode im Flur, warf ihre Lederjacke im Wohnzimmer auf die Couch. Sie ging in die Küche, wo sie sich aus einer angebrochenen Flasche Cabernet Sauvignon ein Glas Rotwein einschenkte, das sie im Wohnzimmer auf einen Untersetzer stellte, der auf dem Wohnzimmertisch lag.

Das Telefon klingelte.

Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab, und meldete sich; „Ja, hier bei Anna Weber. Mit wem spreche ich?“

„Anna? Gut, das ich dich erreiche, ich......“

Annas Atem stockte.

Sabine!

Sabine, meine Ex. Sabine, die mich verlassen hatte, weil sie nicht damit zurande kam, dass ich eine Hexe bin! Sabine, die lieber heimlich zu Karin zog, nur um sich mit mir nicht hinzusetzen und zu sprechen. Sabine, die lieber feige weglief, als ...

Und Sabine, die Frau, die ich immer noch liebe, dachte sie, und eine verirrte Träne suchte sich in ihrem Auge eine Bahn.

Sie hatte nicht mehr zugehört, was Sabine sagte, und so bat sie, das Sabine noch einmal alles

wiederholen sollte, was sie zu ihr gesagt hatte. Sabine wiederholte es.

„Anna, es ist etwas Schreckliches geschehen!“

„Was denn? Hat Karin einer anderen Frau ihre Frau entführt? Darin hat sie doch Übung!“

Sie klang verbittert, was sie nicht sein wollte.

„Anna, nicht sie hat mich damals von dir geholt, sondern ich bin freiwillig zu ihr gezogen. Aber um Karin geht es auch nicht. Es geht um Tamara Szimpanski. Du kennst sie doch noch?“

Und ob sie diese Frau kannte!

Eine große schlanke Frau mit kurzen, rot gewellten Haaren, mit einem leichten Hang zum Zynismus, und der Angewohnheit, sich über alles und jeden lustig zu machen.

„Was ist mit ihr?“

„Sie ist verschwunden! Claudia, ihre Frau sucht sie schon seit Tagen, und kann sie nicht finden. Und sie hat gemeint, da du ja mit ihr eine Weile eine kurze Affäre gehabt hast, das du vielleicht wüsstest, wo sie stecken könnte?“

Anna überlegte.

In der Bar hatte sie Tamara kurz gesehen, als sie mit einer jungen blonden Frau eng umschlungen zu der Musik von Shania Twain tanzte, und die Welt um sich zu vergessen schien. Beide hatten sich leidenschaftlich geküsst, und ihre Finger lustvoll am Körper der anderen wandern lassen.

Tamara gehörte nicht zu den Frauen, die Treue groß in ihr Poesiealbum geschrieben hätten. Anna wusste von vielen ihrer Affären, Affären, die meist ihrer Partnerin Claudia schmerzten. Und doch blieb sie bei ihr! Aus dem, was so viele „Liebe“ nennen? Angst vor dem Alleinsein? Masochismus?

Sie konnte Claudia nicht verstehen!

Wenn Tamara meine Frau gewesen wäre, überlegte sie, hätte ich sie nach dem ersten Mal, wo sie mich betrogen hätte, gleich rausgeworfen!

„Sabine“, begann sie. „Sag Claudia, dass sie Tamara zum Mond schießen soll. Ich habe sie heute in der „Busche“ gesehen, wie sie eng umschlungen mit einer anderen Frau getanzt hatte“.

Sie hörte ein lautes Schluchzen, das vermutlich von Claudia herrührte. Ihr war die ganze Situation mehr als peinlich! Sie wusste nicht, ob und was sie Tröstendes sagen könnte.

„Du warst wirklich sehr mitfühlend, Anna“, sagte Sabine sarkastisch.

„Nur ehrlich“, erwiderte Anna. „Wenn Claudia die Sonne nicht vertragen kann, muss sie in den Schatten gehen“.

Sie legte auf.

Verdammt, ich kann sie immer noch nicht vergessen! Warum musste sie mich auch anrufen?

Tja, überlegte sie. Den entspannenden Abend kann ich jetzt wohl ganz vergessen!

Sie ging zum Wohnzimmerschrank, und sah sich die Bilder von Sabine an, die neben mehreren Sektgläsern in unterschiedlich großen Bilderrahmen steckten. Bilder einer gemeinsamen Vergangenheit, festgefangene Augenblicke der Liebe und der Freude, Augenblicke, die nie wieder kommen würden, wie sie wusste!

„Warum nur, hast du mich angerufen? Konntest du dir nicht denken, das du mir dadurch weh tust?“

Sie setzte sich auf die lederne Couch, und begann zu weinen.

 

 

„Darf ich ihnen noch etwas anbieten, Frau Jansen“, fragte die Verkäuferin an der Wursttheke. Noras Blick wanderte die Auslage entlang. Alles sah aber auch so appetitanregend aus! Der gekochte Schinken, der kunstvoll auf einer runden Holzplatte drapiert wurde, genauso wie der Parmaschinken, der sie richtig anzulächeln schien. Sollte sie sich etwas davon gönnen? Oder doch eher auf ihre Figur achten, und sich einige Scheiben dünn geschnittenes Bündner Fleisch

holen. Hach, waren manche Entscheidungen doch so schwer.

„Hallo Nora“, hörte sie eine vertraute Stimme hinter ihrem Rücken.

Nick!

Sie traute ihm nicht mehr, seit ihrem letzten Abenteuer mit einem Dämon, dem sie nur knapp mit Hilfe ihrer beiden Freundinnen Anna und Gerlinde entkommen war. Er wollte sie treffen, um miteinander in einem Café zu reden. Sie ging hin, und wurde von dem Dämon und seinen Helfern überwältigt und gefangen genommen. Sie wollten ihr zuerst ihre Kraft nehmen, um sie danach leichter  töten zu können. Und wären Anna und Gerlinde nicht von der Göttin geschickt worden, sie zu retten, wäre sie jetzt tot!

„Es tut mir sehr leid, dass wir uns verpasst hatten, Nora. Aber mir war etwas dazwischen gekommen. Und als ich zum Café fuhr, warst du schon weg! Könnten wir noch einen weiteren Versuch starten?“ Er sah sie an. Seine Augen blickten sie jungenhaft charmant an. „Biiiiiiiiiite!“

„Du hattest deine Chance gehabt, Nick! Ich wollte nie mit dir reden! Nur du! Ich wüsste auch nicht, was wir zu bereden hätten?“

„Na, über uns!“

„Es gibt kein „uns“ mehr, Nick! Nicht, nachdem du dich damals wie ein gewalttätiges Schwein verhalten hattest, als ich nicht so spurte, wie du wolltest. Oder meinst du, das ich deine Schläge je vergessen hätte?“

„Nein“, erwiderte er, und blickte reumütig zu Boden.

Nora wandte sich von ihm ab, und sagte: Nick, lass mich bitte in Ruhe! Hörst du! Einfach nur in Ruhe!“

Sie ging in Richtung Kasse. Nick blickte ihr nach, wie ihr weiter Rock sich im Takt ihrer Schritte begegnete. Seine Augen wurden flammend rot und er murmelte: „Ich werde dich nie in Ruhe lassen, Hexe! Nicht eher, bis du tot vor meinen Füßen liegst, genauso wie die anderen beiden Hexen!“

 

 

Der Schweiß rann in Strömen Gerlindes Rücken herunter. Sie saß auf einem Trimmfahrrad, das in ihrem Wohnzimmer stand, und strampelte sich die Seele aus dem Leib. Sie keuchte vor Anstrengung, und trocknete sich mit dem um ihren Hals geschwungenem Frotteehandtuch den Schweiß aus ihrem Gesicht ab.

Sie liebte es, auf diesem Gerät zu sitzen, zu schwitzen, und nicht mehr an ihre beiden Kinder zu denken.

In der letzten Zeit dachte sie sehr oft an ihre Kinder! Wie es ihnen wohl gehen mag, fragte sie sich? Ob meine Tochter ihren Traum von der Schauspielerei wahr gemacht hat, und mein Sohn Lokomotivführer geworden ist, wie er sich damals wünschte? Ob ich beide wohl je wiedersehen werde?

Sie merkte, dass sie anfing, wieder traurig zu werden, und strampelte noch mehr. Ihr Atem ging schneller, und ihr Puls raste wie ein Rennwagen auf dem Nürburgring. Dann merkte sie, wie ihr Herz zu rasen anfing. Jetzt muss ich aufhören, sonst macht meine Pumpe schlapp, überlegte sie, und stieg von dem Trimmrad. Ihre Beine zitterten, und sie setzte sich in ihren Lieblingssessel, legte die Beine auf die Fernsehzeitung, die an der Ecke ihres Wohnzimmertisches lag, und atmete tief durch.

Draußen fuhr ein Wagen mit Sirene vorbei. Sie hörte, wie spielende Kinder lauthals schrieen, und das Geschrei einer Frau, die ihren offensichtlich betrunkenen Ehemann die Leviten las.

Sie lächelte.

Gut, das ich nie mehr trinke! Wäre meine Partnerin oder mein Partner so wie die Nachbarin, hätte ich nichts zu lachen, dachte sie.

Der Schweiß, der immer noch an ihr herunterlief, behinderte sie doch ein wenig. Sie wischte den Schweiß aus ihrem Gesicht, trocknete ihre nassen Haare, und zog ihren Trainingsanzug aus, den sie gegen eine dunkelblaue Jeans und eine frisch gewaschene schwarze Bluse

eintauschte.

Sie ging ans Fenster. Der große Kaktus, der neben einer kleinen Primel stand, legte sie

beiseite, und öffnete das Fenster. Die frische Luft, die von der Straße in ihre Wohnung strömte, umhüllte und erfrischte sie.

„Rebecca, komm nach oben. Essen ist fertig“, hörte sie die Stimme einer Frau ihr Kind rufen.

Rebecca!

So heißt meine Tochter! Tränen rannen über ihr Gesicht, und setzten sich in ihrer Bluse fest.

Tochter, ich vermisse dich so sehr, dachte sie! Ihre Gedanken flogen in ihre Vergangenheit zurück. Eine Zeit, wo sie noch mit ihrer Tochter und ihrem Sohn zusammen war. Wo sie gemeinsam lernten, spielten und sich entspannten.  Wo die Liebe zwischen ihr, ihrer Frau, und ihren Kindern so stark und unveränderlich schien!

Eine Zeit, die sie gleichzeitig liebte und hasste!

Eine Zeit, wo ihr Körper noch männlich war!

Ein Hund bellte, und holte sie aus ihrer Reise in die Vergangenheit heraus.

Sie wischte die Tränen aus ihrem Gesicht, und schloss die Tür.

So, wie ich das Fenster schließe, so ist es am besten, wenn ich auch mein Herz verschließe, überlegte sie. So kann mich niemand mehr verletzten!

Sie machte mit ihrer Fernbedienung den Fernseher an, und zappte so lange in den einzelnen Kanälen herum, bis sie eine Sendung fand, die ihr halbwegs zusagte. Lustlos sah sie in die Mattscheibe, wo ein Krimiheld gerade hinter einem Mörder her sprang.

„Ach, meine Kinder, könnte ich doch bei euch sein“, seufzte sie.

 

 

Noras Arme drückten sich nach unten.

Die drei schweren Plastiktaschen waren daran schuld, und sie merkte, wie ihre Muskeln sich bei jedem Schritt mehr und mehr anstrengen mussten, die Taschen fest zu halten. Ihre Hände fingen an, sich zu verkrampfen, und so legte sie die Taschen auf den Boden. Mit langsamen, fest greifenden Bewegungen massierte sie den Rücken ihrer Hände, und atmete tief durch.

Nur noch wenige Meter bis zu meiner Wohnung, überlegte sie, bis ich meine Füße endlich hoch legen kann!

Sie nahm die Taschen wieder auf, die sie aber in ihren Händen wechselte, so, wie es ihre Mutter ihr beibrachte, als sie einmal einkaufen gingen. Sie war damals etwa sechs Jahre alt gewesen, und sollte in einem Monat ihren ersten Schultag haben, auf den sie sich schon sehr freute. Ihre Mutter und sie waren einkaufen gefahren, um noch all die vielen Kleinigkeiten zu kaufen, die sie brauchen würde. Tafel und Kreide, Bleichstifte und Hefte, Malbücher und Lesebücher der ersten Klasse. Ein Rechenschieber und viele Buntstifte fehlten noch, als sie den Laden betraten.

Der Laden gehörte Maja, einer der Freundinnen ihrer Mutter, und eine wundervolle Geschichtenerzählerin! Sie war gerne dort, und liebte es, die weiche Haut Majas zu riechen, wenn Maja sie umarmte. Maja gab ihr zum Abschied immer eine Tafel Schokolade. Schwarze Herrenschokolade. Sie liebte den Duft dieser Sorte, die sie auch heute noch aß. Und jedes Mal, wenn sie eine Tafel aufriss, und den herben Duft roch, erinnerte sie sich an Maja und ihre wohltuhend duftend warme Haut!

Zu Hause habe ich noch eine Tafel, sinnierte sie. Ich glaube, ich werde mir heute die Tafel zu Gemüte führen!

Sie ging einige Schritte, als sie eine vertraute Stimme hinter sich leise „Nora“ rufen hörte.

Sie drehte sich um.

Ihre Mutter, vor einigen Jahren von Hanim umgebracht, stand als Geist vor ihr. Sie lächelte ihre Tochter an.

„Es tut gut, dich zu sehen, meine Tochter“, sagte sie. „Ich werde bei dir zu Hause auf dich warten“, sagte sie, und verschwand.

Nora war verwirrt!

Ihre Mutter?

Warum kam sie so plötzlich?

Das war doch sonst nicht so ihre Art! Sonst kam sie doch immer, wenn ich sie durch ein Ritual rief, oder sie spürte, das ich sie brauchte, dachte sie. Da muss was wichtiges passiert sein!

Sie ging schneller.

„Guten Morgen, Frau Weber“, begrüßte sie ihre Nachbarin. „Schönes Wetter, heute“.

Nora murmelte abwesend ihren Gruß.

Sie bemerkte nicht, wie ihre Nachbarin ihr irritiert nachblickte.

Wenige Augenblicke später, der Fahrstuhl hatte sie in ihre Etage gebracht, schloss sie ihre Türe auf, und brachte die eingekauften Sachen in die Küche, wo sie alles im Kühlschrank oder im Vorratsschrank verstaute.

Dann ging sie in ihr Wohnzimmer, wo ihre Mutter es sich schon auf ihrer Couch gemütlich gemacht hatte.

„Da bist du ja, mein kleiner Liebling“, begann sie. „Ich bin froh, dass du da bist!“

„Mama, was ist los?“

„Du bist in Gefahr, ebenso Anna und Gerlinde“.

„Warum, Mama?“

„Weil Hanim, der Dämon, der mich getötet hatte, hinter etwas her ist, von dem er denkt, das du von mir wüsstest, wo es ist. Etwas, was ihm Macht geben würde, die Erde zu beherrschen. Das Orakel von Delphi!“

„Was ist das?“

„Eine runde Steinscheibe, die an einer ledernen Schnur hängt. Wenn jemand durch das Loch in der Mitte einen Menschen ansieht, muss dieser alles tun, was ihm gesagt wird, wie sehr es auch seinem Wesen widersprechen mag!“

Ihre Tochter blickte sie fragend an.

„Wie du ja weißt, macht ein Mensch unter Hypnose nie etwas, was seinem Wesen nicht entsprechen würde! Niemand, der das nicht auch im wirklichem Leben tun würde, könnte einen anderen Menschen töten!“

Nora nickte wortlos.

„Und diese Scheibe hebt das auf! Und Hanim könnte, wenn er die richtigen Männer und Frauen damit ansieht, die Erde zerstören.“

„Und wieso meint Hanim, das ich wüsste, wo das Orakel ist?“

„Weil deine Großmutter das Orakel in München versteckt hatte, als der zweite Weltkrieg sich seinem Ende neigte. Ich war damals ein kleines Kind, und lebte bei der besten Freundin meiner Mutter in Gießen. Und meine Mutter erschien mir, als ich ein kleines Kind war, und sagte mir, wo sie es versteckt hatte. Ich hatte es verdrängt, und erinnerte mich erst wieder daran, als Hanim mich getötet hatte. Aber da war es schon zu spät! Und so wartete ich, bis du in meine Fußstapfen getreten warst, und deine Gabe von der Göttin bekommen hattest!“

Noras Mutter blickte ihre Tochter eindringlich an. Ihre durchsichtige Hand legte sich auf Noras Schulter, und Nora bemerkte, wie eine einsame Träne sich aus dem linken Auge ihrer Mutter löste, und zu Boden fiel.

„Nur die Macht der drei Hexen kann jetzt helfen, Nora! Nur die Macht der drei Hexen kann das Orakel vor Hanim schützen, da der Zauber, den meine Mutter um sie gelegt hatte, langsam beginnt, sich aufzulösen. Ihr habt nicht so viel Zeit, Tochter! Vielleicht noch zwei oder drei Tage?“

„Und wo genau ist das Orakel?“

Ihre Mutter sagte es ihr!

 

 

Zwei Stunden später, nachdem sie Anna und Gerlinde angerufen hatte, waren alle drei im Wohnmobil unterwegs in Richtung München. Gerlinde, die das „Buch der Schatten“

mitgebracht hatte, hatte es sich im hinteren Teil des Wohnmobils gemütlich gemacht. Das „Buch der Schatten“ lag vor ihr auf dem kleinen Tisch des Wohnmobils aufgeschlagen. Sie suchte nach Hinweisen auf das Orakel von Delphi, und nach wenigen Minuten intensiven Suchens, fand sie etwas.

„Hört mal, was ich über das Orakel im Buch gefunden habe“, begann sie. „Das Orakel von Delphi war in der alten Zeit eine Priesterin der Göttin, die in einer Höhle saß, und mittels der dort aufsteigenden bewusstseinserweiternden Dämpfe weissagte. Eines Tages kam ein Dämon in diese Höhle, der sie töten wollte, um sie daran zu hindern. Er wurde von drei Priesterinnen, die vorbeikamen, um ihre Schwester zu besuchen, daran gehindert. Dann schufen alle vier Priesterinnen aus dem Gestein der Höhle ein rundes Amulett, in das sie alle Kraft des Orakels hineinlegten. Im Laufe der Geschichte wurde dieses Orakel immer von den drei Priesterinnen bewacht, und dann, als die Priesterinnen im heutigen Griechenland aufhörten zu existieren, wurde das Orakel in das Reich der Schatten gebracht. Dann, im 17. Jahrhundert, wurde es von dort durch einen Dämon gestohlen, und kurze Zeit später wieder durch eine Hexe entwendet, die ein Teil der Macht der drei Hexen war!“

„So alt sind wir schon“, frotzelte Anna? „“Dann haben wir uns ja ganz gut gehalten!“

Alle drei Frauen lachten.

„Und diese drei Frauen hatten dann von der Göttin die Aufgabe bekommen, auf das Orakel aufzupassen. Dann, im Jahre 1941 hörten die Eintragungen auf!“

„Die Zeit also, in der meine Großmutter mit ihren Schwestern für das Orakel verantwortlich war“, führte Nora den Bericht fort. „Hanim, hatte Wind davon bekommen, und tötete zwei der drei Hexen. Meine Großmutter, die letzte Überlebende, flüchtete, das Amulett unter ihrem Mantel verborgen, und verfolgt von zwei Schergen Hanims in SS- Uniformen...“. „Wie passend“, unterbrach sie Gerlinde! „.. die sie einholten“, fuhr Nora fort. „Aber vorher hatte sie das Amulett im Keller eines Gebäudes versteckt, und mit einem Schutzzauber belegt, deren Wirkung bald aufgehoben sein wird, da meine Großmutter nicht genügend Kraft für einen dauerhaften Schutz mehr hatte. Und wisst ihr, wo das Amulett heute steckt?“

Anna und Gerlinde schüttelten ihre Köpfe.

„Das werdet ihr mir nicht glauben! Es ist auf dem Gelände der Staatskanzlei der bayrischen Landesregierung. Die wurde auf dem Alten Gebäude aufgebaut, das vom Krieg zerstört wurde“.

„Ha, darum ist die bayrische Regierungspolitik immer so diffus gewesen“, bemerkte Anna!

„ Mir kam der Regierungspräsident schon immer wie eine Marionette vor“, sagte Gerlinde, und schloss das „Buch der Schatten“.

Nora brachte den Wagen, wegen des vor ihr endeten Staues zum Stehen.

„Was meinst du, Nora, was wir tun sollen? Etwa da einbrechen?“

„Ich weiß nicht, Anna“, entgegnete Nora. „Ich weiß nur, dass wir das Orakel vor Hanim schützen müssen!“

„Aber machbar wäre es“, warf Gerlinde ein. „Wir brauchen nur den Plan des Hauses, und den Plan des Sicherungssystems der Kanzlei. Wenn wir das haben, müssen wir uns nur diverse Gegenstände besorgen, und schon sind wir wie Boris Becker drin!“

„Sag mal, woher weißt du das alles so genau“, fragte sie Anna? Die Polizistin in ihr kam wieder einmal durch, und ein Verdacht kam in ihr hoch! War Gerlinde früher einmal eine Einbrecherin?

„Nun, ich hab in meinem Leben vieles lernen müssen, auf das ich liebend gerne verzichtet hätte! Dazu gehören auch solche Sachen wie Einbruchsvorbereitungen und Einbrüche!“

Also doch! Sie war eine Einbrecherin, eine Diebin, genauso, wie ich es mir gedacht hatte!

Gut, das sie nicht noch mehr nachfragt! Gerlindes Innerstes zitterte. Wenn sie wüssten, für wen ich das warum gemacht hatte, könnten sie mir nie wieder vertrauen! Anna kommt aus dem Osten Berlins, und die hatten schon immer wegen ihrer Stasi, der Staatssicherheit der untergegangenen DDR, so ihre liebe Not mit Nachrichtendiensten aller Art. Sollte ich ihr

etwa sagen, das ich damals gezwungen wurde, für den Geheimdienst der BRD, dem MAD, dem militärischen Abschirmdienst zu arbeiten? Gezwungen, weil sie Bilder von mir hatten, wie ich heimlich als Frau durch die Straßen Berlins ging, was meinem damaligen Chef bestimmt nicht gefallen hätte. Damals wusste ich ja selbst noch nicht, wer ich war! Und die vom Geheimdienst nutzten das aus, und ließen mich ausbilden. Ich lernte Kampfsport, einzubrechen und mit Mikrofilmen umzugehen. Ich lernte Menschen zu manipulieren und zu benutzen, und wurde so lange von ihnen gebraucht, bis ich für sie nutzlos wurde. Dann warfen sie mich wie ein nutzloses Möbelstück weg.

„Und wie sollten wir das deiner Meinung nach tun, Gerlinde“, fragte Nora, die den Motor wieder anwarf, da der Stau langsam sich wieder vorwärts bewegte?

„Am besten wäre es, wenn Anna wieder aus ihrem Körper gehen würde, und sich im Amt für Bauwesen den Gebäudeplan besorgen würde. Und dann sich in der Kanzlei die Sicherheitsanlagen ansehen, und uns dann alles berichten würde. Danach könnte ich alles besorgen, was wir brauchen, und den Plan machen, wie wir am sichersten hineinkommen können, um das Orakel sicher wieder herauszuholen!“

„Das, was du da tun willst, ist gegen das Gesetz, liebe Gerlinde“, warf Anna ein.

„Aber es würde uns helfen, das Orakel sicher herauszubekommen“, sagte Nora! Sie blickte Anna an. „Was ist wohl wichtiger? Das Orakel in Sicherheit zu bringen, oder in ein Haus einzubrechen, wo wir außer dem Orakel, für das wir als Priesterinnen der Göttin sowieso die Verantwortung tragen?“

„Aber wir könnten in Teufels Küche kommen, wenn wir geschnappt werden?“

„Darum solltest du ja sozusagen erst einmal die Informationen sammeln, Anna, um das Risiko so klein wie möglich zu halten“, sagte Gerlinde. „Und außerdem haben wir alle von der Göttin Gaben bekommen, die uns aus der Klemme helfen können!“

„Na ja“, erwiderte Anna, „was Nora und mich angeht, vielleicht? Aber bei dir? Wie soll deine Gabe, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Menschen zu wissen, dir helfen, zu entwischen?“

„Anna, unterschätze nie die Macht der Wahrheit und des Wortes! Glaub mir, ich hab mich schon oft genug in meinem Leben ohne diese Gabe aus brenzligen Situationen herausreden können. Nein, in dieser Beziehung brauchst du keine Angst zu haben!“

Ein Mercedes, der links auf der Autobahn überholt hatte, wollte sich rechts vor dem Wohnmobil einscheren, und blinkte. Nora drückte leicht auf die Bremse, so dass der Wagen etwas langsamer wurde, und der Mercedes reihte sich vor ihr ein.

Eine Stunde später erreichten sie den Stadtrand von München.

 

 

Sie hatten sich alle umgezogen. Alle trugen eine schwarze Jeanshose, ein schwarzes T- Shirt und schwarze Schuhe. Und eine dunkle Jeansjacke, in deren Taschen viele notwendige Kleinigkeiten ihren Platz fanden.

„Hast du alles, Gerlinde“, fragte Nora?

„Ich hab alles bekommen, was wir brauchen. Dank Annas Besuch als Geist in der Kanzlei, wissen wir nun, wo die Sicherheitslücken sind, und wir die Kameras und Druckmelder umgehen können“.

Gerlindes Stimme klang fest und bestimmt, obwohl es in ihr brodelte, und ihr Magen sich

zusammenzog. Sie hatte schon viele Einbrüche in hoch gesicherte Gebäude mit Wachhunden

und bewaffneten Wächtern geplant und durchgeführt, und nie war etwas geschehen! Sie sollte also professionell handeln. Sie hatte Angst, und das spürten auch Anna und Nora, die sie anblickten, und versuchten, ihr durch ihre Blicke Mut zu machen.

Wenn alles doch nur schnell vorbei wäre, hoffte Gerlinde! Ich darf keinen Fehler machen,

denn ein Fehler bedeutet, das unsere Aufgabe nicht nur gescheitert wäre, sondern wir alle im

Knast versauern würde!

Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, bei der Erinnerung an ihren Gefängnisaufenthalt. Sie

hatte keine Lust darauf, diese Erfahrung zu wiederholen. Und sie konnte sich denken, dass Nora und Anna auch nicht sehr der Sinn nach gesiebter Luft stand.

„Hast du die beiden Lenkdrachen fertig zusammen gebaut?“

„Ja“, erwiderte Anna, die es liebte, Sachen zusammenzubauen.

Gerlinde blickte Nora an, die damit beschäftigt war, mehrere Elektronikteile, kleine Spiegel und Rauchkerzen in einen schwarzen Rucksack aus Leder zu stecken.

„Nora“, fragte sie, „bist du dir sicher, das wir das hier wirklich durchziehen wollen?“

„Ja“, erwiderte Nora, und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, der ihre Unsicherheit nicht verriet. „Wir haben die Aufgabe, das Orakel zu beschützen, also beschützen wir es, verdammt noch mal!“

„Und du, Anna“, fragte Nora? „Noch kannst du aussteigen!“

„Und auf ein Abenteuer zu verzichten? Sag mal, für wie feige hältst du mich eigentlich?“

„Anna, das hat nichts mit Feigheit zu tun! Aber wir müssen alle drei wissen, das wir ein großes Risiko eingehen, und das es auch schief gehen könnte?“

„Nicht, bei den vielen Vorbereitungen, die wir machen mussten! Mir tun jetzt noch die Knochen weh von der Art, wie Gerlinde uns durch die Gegend scheuchte, nur, damit wir fit und biegsam sind!“

„Dann ziehen wir es durch, Schwestern!“

Noras Stimme war nun kräftiger, da ihr Vertrauen, das alles ein gutes Ende finden würde, wuchs.

„Gut, so soll es sein!“ Anna blickte Nora an. „Und wie wollen wir jetzt auf das Dach der Kanzlei kommen, ohne Wind, der uns und unsere Drachen hoch treibt?“

„Durch einen Wetterzauber, den ich im „Buch der Schatten“ gefunden hatte“, erwiderte Gerlinde, und nahm das Buch in ihre Hand, und stellte sich zwischen Anna und Nora. „Wir müssen nur diesen Spruch sprechen, und Magnesium in die Luft werfen. Magnesium habe ich hier“, sagte sie, und holte eine Papiertüte aus ihrer Jeans hervor, auf die sie deutete.

Alle bildeten den heiligen Kreis, und begannen:

 

„Diana... Diana... Diana

Ich rufe fünfundvierzig Geister des Westens!

Ich rufe fünfundvierzig Geister des Ostens!

Sende wilde Geister des Windes und der Stürme,

Segne unsere Flügel und unsere Aufgabe!

Schicke uns den Wind, der uns in den Himmel emporhebt,

und uns hilft, deinen Willen zu tun.

Diana... wir rufen dich an!

Sei gesegnet! Segen mit dir!“

 

Sie wiederholten den Spruch immer und immer wieder. Zuerst langsam, dann immer schneller werdend, und sie spürten, wie sich eine leichte Brise bildete, die sich mehr und mehr verstärkte. Die Blätter des Buches der Schatten flatterten wie Fahnen im aufbrausenden Wind hin und her.

„Es ist bald soweit“, bemerkte Nora. „Lasst uns unsere Rucksäcke anziehen, und uns die

Sicherungsgürtel umlegen, und in unsere Drachen steigen.“ Sie sah, wie Annas Atem sich beschleunigte. War sie noch nie Drachen geflogen? Hatte sie Angst davor? Na, zum Glück hat Gerlinde einen Drachen mit zwei Sitzen besorgt! Dann werde ich halt mit ihr fliegen, überlegte sie, und ihr so die Angst nehmen!

„Anna, wenn du magst, kannst du mit mir fliegen?“

Anna nickte dankbar.

Sie war eine Butch, und wollte sich vor den anderen Frauen keine Blöße geben, und zugeben,

das sie noch nie geflogen war. Sie hatte Angst! Eine Angst, die sie drohte zu lähmen! Und das

wusste sie!

Nora hatte sich schon in den Sitz gesetzt, und hielt Anna ihren Sitz weit geöffnet fest, so das

sie hineinschlüpfen konnte. Sie hing fest an Noras Bauch, und sie spürte, wie eine plötzliche

Ruhe sie umschloss. Die Angst verflog. Sie fühlte sich plötzlich sicher! Ihre Hände hielten sich, ebenso wie Nora, an den Außenstangen des Lenkdrachens fest, und sie bemerkte, dass Gerlinde dasselbe tat.

Ein plötzlicher Ruck durchfuhr ihren Drachen, und dank des Windes, der immer stärker wurde, erhoben sie sich. Ein bisher unbekanntes Glücksgefühl erfasste Anna. Plötzlich fühlte sie sich frei von allen Sorgen und Gedanken um ihre Zukunft! Sie dachte weder an Sabine, noch an die Gefahr eines möglichen Absturzes! Weder an ihre Angst vor dem Fliegen, geschweige denn an ihr Leben!

Sie fühlte sich einfach frei wie ein Vogel, und dieses Gefühl berauschte sie! Sie flogen geschäftige Straßen entlang, passierten die Luitpoldbrücke, und kamen in die Prinzregentenstraße. Rechts ein riesiger Park mit dem Haus der Künste, links eine U- Bahn- Station, in die viele Menschen hastig liefen.

„Laut dem Stadtplan sind es nur noch wenige Meter bis zur Staatskanzlei“, sagte Nora, und fing an, ihr Gewicht leicht nach links zu verlagern, und deutete Anna an, dass sie dasselbe tun sollte. Wenige Augenblicke später sahen sie das langgestreckte Gebäude der Staatskanzlei, mit der großen Kuppel in der Mitte des Daches. Ein protziger Bau, so hässlich wie funktional. Nora erinnerte dieses Gebäude fatal an ein Museum des vergangenen Jahrhunderts.

„Du musst jetzt an diese Leinen ziehen“, sagte Nora. „Dann werden wir auf dem Dach landen. Aber zieh bloß nicht zu fest, hörst du?“

„Ich werde mein Bestes tun“ erwiderte Anna. „Du musst mir nur sagen, ab wann ich ziehen soll?“

Sie sah, wie Gerlinde mit gekonnten Bewegungen zur Landung ansetzte, ihre Füße ausstreckte, und mit einer leichten Drehung auf dem Dach landete. Sie befreite sich aus dem Sitz, und nahm mit geübten Händen den Drachen schnell auseinander, und legte die Einzelteile auf den Boden des Daches in eine Ecke am Rand.

„Jetzt“, sagte Nora, und Anna zog mit einer langsamen Bewegung an der Nylonschnur. Die seitlichen Flügel des Drachens senkten sich, und der Drachen verlor an Höhe. „Wenn ich „jetzt“ sage, dann schnellst du deine beiden Füße gleichmäßig nach vorne, und federst dich, wenn sie den Boden berühren, mit ihnen ab.“ Noras Stimme beruhigte sie, und sie konzentrierte sich. Ihr Drachen kam dem Dach immer näher, und wurde größer und größer. Anna schloss die Augen, und sprach ein leises Stoßgebet zur Göttin.

Ein leichter Rums durchzuckte ihren Körper, als ihre Füße den steinigen Boden berührten. Nora hielt den Drachen fest, und löste Annas Sitz, die lautlos zu Boden glitt, bevor sie sich selbst aus dem Drachen befreite. Dann nahm sie den Drachen auseinander, und legte die Einzelteile neben den Drachen von Gerlinde. Denn auch sie hatte Angst, genauso wie Gerlinde, dass der Drachen sich selbstständig machte, und davonflog, denn nirgendwo konnte sie den Drachen anbinden.

„Und was machen wir jetzt“, fragte Nora?

„Jetzt sichern wir uns erst einmal ab, ob wir hier noch nicht beobachtet worden sind, und dann

gehen wir durch die Tür da in den unteren Raum, wo wir die Spiegel an den Videokameras

anbringen. Wir werden dann im toten Winkel weitergehen!“

 

 

Max Grießer war ein Wachmann! Ein älterer Mann mit dunkelbraunen, mit grauen Strähnen durchsetzten Haaren, einem runden Gesicht, und einem ebensolchen Bauch, der in einer sehr eng sitzenden Uniform steckte.

Er blickte in seinem Wachzimmer im Erdgeschoss auf die Uhr. In wenigen Minuten wusste

er, würde er wieder zu seiner nächsten Tour durch die Staatskanzlei mit seinem Kollegen

Jochen Riechelt, einem jungen ehemaligen Polizisten mit roten Haaren und Sommersprossen, aufbrechen. Jochen würde wie immer die unteren, er die oberen Etagen durchlaufen, und an

bestimmten Haltepunkten die Stechuhr betätigen, als Nachweis ihres Kontrollganges. Dabei würden sie in den Sicherheitsbereichen, in denen Bewegungsmelder, Videoüberwachungskameras und unsichtbare Lichtschranken nicht betreten, um keinen Alarm auszulösen, sondern nur einen kurzen Blick hineinwerfen. Neugierig, wie er nun einmal war, würde er zu gerne einmal sehen, wie das Büro aussah, in dem der bayrische Ministerpräsident arbeitete, den er so sehr verehrte, und deren Politik er unterstützte. Jedes Mal, wenn er auf seinem Kontrollgang an der Tür des Ministerpräsidentenbüros vorbei kam, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht; seine Schirmmütze, die zu seiner Dienstuniform gehörte; zu lüften und ein „vergelt`s Gott, Herr Ministerpräsident“, zu wünschen.

Er war in der nördlichen Halle, in einem Raum voller Kugeln, die sich bewegten, und ihn sehr an das Planetensystem der Sonne erinnerte, um das sich alle Planeten kreisten.

Da!

War da nicht ein Geräusch?

Ein Geräusch von Füssen, die sich auf dem glatten Parkettboden des Flures hastig bewegten?

Er ging aus der Halle hinaus, und folgte den Geräuschen, die sich in südlicher Richtung fortzubewegen schienen.

Er passierte einen großen Torbogen, und dann, plötzlich und unerwartet, hörte er nichts mehr!

Wo waren sie hin?

 

 

Der Raum, den sie betraten, war dunkel. Nur der fahle Mondschein, der durch eine überdimensionale Kuppel schien, spendete etwas Licht. Sie sahen mehrere Säulen, und an der runden Wand verschiedene, konisch geformte Ornamente, und runde Fenster, deren Möglichkeiten, Licht zu spenden, sehr gering waren.

Gerlinde hatte mit den Spiegeln vor den Videokameras einen toten Winkel geschaffen, in deren Schutz sie den Weg fortsetzten. Anna zupfte nervös an ihrer Jacke, und blickte sich andauernd um.

Wenn wir nur nicht erwischt werden, dachte sie. Nicht auszudenken, was das für Folgen haben könnte! Ihre Muskeln spannten sich, ihre Sinne waren geschärft. Jedes Geräusch, das Nora, Gerlinde oder sie machten, ließ den Schweiß an ihrem Gesicht herunterlaufen. Irgendwo, aus der tiefsten Ecke ihrer Erinnerung tauchte eine Melodie auf. Eine Melodie ihrer Lieblingsfernsehserie „Mission Impossible“. So fühle ich mich jetzt auch, überlegte sie. Wie eine Geheimagentin auf geheimer Mission. Sie lächelte. Gerlinde nieste, und sie drehte sich um. Erneuter Angstschweiß rann von ihrer Stirne, und sie legte ihren Zeigefinger auf ihre Lippen.

„Willst du, das wir alle auffliegen“, flüsterte sie?

„Tschuldigung“, erwiderte Gerlinde. „Aber hier scheint irgendwas zu sein, gegen das ich anscheinend allergisch reagiere“.

Sie gingen weiter. Durch weißgestrichene Torbögen, die Platz für einen Elefanten mit Mensch

darauf boten, und vorbei an dunkelbraun gestrichenen Türen, die Aufschluss gaben, wessen

Büro vor ihnen stand.

Sie gelangten zur Treppe.

Da, ein plötzliches Geräusch!

Sie hörten die tapsenden Schritte eines älteren Mannes, die immer näher kamen.

„Ob jemand uns folgt“, fragte Nora flüsternd.

Gerlindes Hand deutete beiden, das sie alle sich nicht bewegen sollten. Die Schritte kamen näher und näher, wie ein drohendes Unheil, gegen das es keine Rettung geben würde. Nora blickte sich um. Leise, jede laute Bewegung vermeidend, schlich sie zu einer nahen Tür, und

versuchte, die Klinke hinunterzudrücken.

Vergebens, die Tür blieb zu!

Anna ging zur ihr am nächsten stehenden Tür, die sich leicht öffnen ließ. Sie blickte Gerlinde und Nora an, die sofort verstanden! Sofort verschwanden alle drei Frauen hinter der Tür, die sie leise schlossen.

Sie blickten sich nach einem geeigneten Versteck um, fanden aber außer einer Menge wuchtiger Tische und Stühle, im altbayrischem Stil und einem halboffenen Fenster, nichts, was als Versteck geeignet zu sein schien. In dem Raum war eine Seitentür, durch die sie, nachdem sie sich durch kurze Blicke miteinander verständigten, hindurchgingen. Sie befanden sich in einem Raum, der wie ein typischer Raum für Beamte aussah. Mehrere Aktenschränke aus Metall, einen Kleiderschrank, einen Kühlschrank, mehrere Büromöbel, zusammengewürfelt aus den unterschiedlichsten Stilrichtungen, mit Computern, deren Alter schon antiquarisch waren. Eine Tür, die vermutlich auf den Flur hinauslief, war verschlossen.

Mit einem Atem, den alle Frauen so flach hielten, als sie nur konnten, lauschten sie den Schritten, die näher kamen, eine Weile still blieben, und sich dann wieder entfernten. Sie atmeten auf.

Anna merkte, dass ihr Puls in den vorangegangenen Minuten wie ein Auto auf der Rennstrecke gerast war. Sie spürte, dass ihre Lippen trocken geworden waren.

Auch das noch!

Mein Kreislauf macht schlapp, dachte sie, und ich hab mein Medikament nicht dabei!

Scheiße aber auch!

Gerlinde gab das Zeichen zum Aufbruch.

Mit langsamen und vorsichtigen Schritten gingen sie zu der offenen Tür zurück. Gerlinde öffnete leise und vorsichtig die Tür, und blickte nach links. Plötzlich traf sie ein Schlag, der sie taumeln ließ.

„Hab ich dich endlich“, hörten Nora und Anna eine Stimme wütend ausrufen.

Die Gestalt in der Uniform eines Wachmannes, drängte sich in das Zimmer, erblickte Noras und Annas überraschte Gesichter, und griff zu seinem Sprechfunkgerät. „Jochen, ruf die Polizei. Ich habe hier drei Frauen festgenommen, die hier eingebrochen sind!“

„Brauchst du Hilfe“, ertönte eine Stimme aus dem Sprechfunkgerät?

„Nein“, sagte der Wachmann selbstbewusst. „Ich werde doch wohl mit drei Frauen fertig werden?“

Na, wenn du meinst“, sagte die Stimme im Walkie Talkie?

Der Wachmann schaltete sein Gerät ab.

„So, meine Damen! Dann sagen sie mir einmal, was sie zu so einer späten Stunde noch in der Staatskanzlei zu suchen hatten? Und Arbeiten tun sie hier nicht, denn das wüsste ich! Und einkaufen kann hier auch niemand“, sagte er lachend, weil er meinte, einen guten Witz gemacht zu haben.

Anna blickte Nora und Gerlinde, die sich von dem Schlag erholt, wieder aufgestanden war, an. Wortlos schienen sie sich zu verstehen. Noras Hand erhob sich langsam, sie konzentrierte sich auf den Wachmann, und der Wachmann flog an die Decke, wo er sich um seine eigene Achse drehte. Sein Sprechfunkgerät viel zu Boden, wo es zerschellte.

„He, was soll das? Last mich runter“, ertönte die Stimme des Wachmannes!

„Das geht nicht, wir müssen noch hier einkaufen gehen“, erwiderte Anna.

„Wir lassen dich nur runter, wenn du versprichst, schön brav zu sein, und dich von uns fesseln und knebeln lässt“, bot Nora ihm an, worin er sofort einwilligte.

Mit einer langsamen Bewegung von der Decke zum Boden des Zimmers, holte Nora den

Wachmann wieder auf die Erde zurück.

„Wer seid ihr“, fragte er?

„Die Guten“ erwiderte Gerlinde. „Und weil wir die Guten sind, müssen wir was erledigen, was vielen Menschen das Leben rettet“.

„Und was?“

Gerlinde blickte Nora fragend an. Nora nickte kaum merklich ihr zu.

„Also, im Keller befindet sich etwas, was in den falschen Händen großes Unheil anrichten kann. Und wir drei sind Menschen, die dafür sorgen wollen, dass es auch in Sicherheit, und in die richtigen Hände kommt. Willst du uns helfen?“

„Habe ich eine andere Wahl“, fragte der Wachmann?

„Die hast du“, erwiderte Nora. „Man hat immer eine Wahl! Wenn du uns nicht helfen willst, dann steh uns bitte nicht im Weg! Dann fesseln wir dich kurz, und du bleibst hier.“

Der Wachmann blickte die drei Frauen an. Irgendetwas war an ihnen, was ihm Vertauen einflößte. Er konnte nicht sagen, was es war, aber er fühlte es genau.

„Also, ich heiße Max Grießer! Und zum Keller geht es da hinaus“, sagte er, und deutete auf die vor ihnen liegende Tür.

Das Sprechfunkgerät blieb wie ein einsames Stück Müll in dem Raum zurück, den alle gerade verlassen hatten.

 

 

Jochen Riechelt hatte Wachdienst.

Er hasste diese Arbeit, aber als gehorsamer Diener Hanims hatte er die Stelle vor einem halben Jahr angenommen. Er sollte auf das Erscheinen von drei Frauen, drei Hexen warten, die hier etwas holen sollten.

Hanim sagte ihm, das er sie so lange beobachten solle, bis sie das Objekt, ein rundes Steinamulett gefunden hätten, und es ihnen dann abnehmen.

Er hatte seinen Auftrag schon fast vergessen, bis ein Kollege davon erzählte, dass er drei Frauen erwischt hatte.

Ob das die drei Hexen waren?

Er wusste, dass er nicht die Polizei rufen dürfte! Jedenfalls nicht eher, als bis das Amulett in seinem Besitz war!

Seine Augen, bis vor kurzem noch graublau, verfärbten sich vor Erregung zu einem dunklen Rot, und er stand auf. Seine linke Hand fuhr an seinem Körper entlang, und er verschwand.

 

 

Sie waren im Keller angelangt.

Max Grießer ging zum Sicherungskasten, und schaltete den Bewegungsmelder, das Videoüberwachungssystem und die Lichtschranken aus. Mit einem seiner vielen Schlüsseln, die an einen Schlüsselbund festverbunden an seiner Gürteltasche hing, öffnete er die Türe, die zum Keller führte. Sie gingen durch eine Reihe von Spalier stehenden Aktenschränken durch, und kamen an eine andere Tür, die verschlossen war.

Nora blickte den Wachmann fragend an, der schüttelte den Kopf.

„Dafür habe ich keinen Schlüssel! Das ist der Hochsicherheitsbereich, zu dem nur ganz wenige Menschen uneingeschränkten Zutritt haben! Und ich gehöre nicht dazu!“

„Und nun“, fragte Nora? „Hat jemand eine Idee, wie wir die Tür aufkriegen?“

„Vielleicht du, Gerlinde? Du verstehst dich doch so gut auf verschlossene Türen!“

Anna klang ironisch, und diese Ironie verletzte Gerlinde sehr!

Aber ihre Verletztheit musste vor der Aufgabe, das Orakel von Delphi in Sicherheit zu

bringen, zurückstehen! Sie schluckte ihren Ärger herunter, und ging wortlos zur Tür.

Mit dem ersten Blick der erfahrenen Einbrecherin sah sie, dass diese Tür gut gesichert war. Es wird nicht einfach sein, überlegte sie, aber wenn ich etwas finden könnte, was den Stromkreis der Tür außer Kraft setzen würde, dann öffnet sie sich von selbst! Was wir brauchen, ist ein schöner leiser Kurzschluss! Ich hoffe nur, das die Tür nicht mit irgendwelchen Sicherheitssystemen verbunden ist?

Sie blickte sich um.

„Was suchst du,“, fragte Anna?

„Etwas, womit ich einen Kurzschluss auslösen könnte“.

„Warum war die Tür auf dem Plan nicht angegeben“, fragte Nora?

„Du hast doch gehört! Geheimer Hochsicherheitsbereich“, erwiderte Gerlinde. „Scheiße, damit konnte niemands rechnen!“

Sie sah Nora an.

„Und du bist dir sicher, dass es hinter der Tür ist?“

„Ja, todsicher“, erwiderte Nora!

„Bloß nicht“, warf Anna ein! „Ich hab noch vor, ne Weile diesen Planeten zu besuchen!“

„Und wie wäre es mit Wasser ins Schlüsselloch“, fragte Nora Gerlinde, die immer noch sich nach einem geeigneten Gegenstand umsah, der den Kurzschluss verursachte.

Wenn du dann selbst geröstet werden willst, nur zu“, erwiderte sie Nora. „Denn das Wasser auf dem Boden wäre geladen. , Und, je nachdem, welche Stromart die Tür sichert, kannst du einen leichten oder einen schweren Schlag abbekommen, der deine Pumpe außer Kraft setzt, und deine Haut in ein Grillhähnchen verwandelt!“

„Und was schlägst du als Alternative vor“, fragte Anna etwas ungeduldig?

„Das ich mein Schweizer Offiziersmesser nehme, und versuche, den Draht zu erwischen, der die Tür sichert. Ich schlage dann sachte dagegen, und hoffe, das zwei offen stehende Kabel sich berühren, so das ein Kurzschluss ausgelöst wird.“

„Na, dann man tau“, sagte Anna mit breiten Hamburger Akzent.

Gerlinde griff in ihre Jeans, die an manchen Stellen schon leicht durchsichtig wurden, und holte ihr geliebtes Offiziermesser hervor. Sie nahm eine dünne Stichsäge heraus, und bat den Wachtmann, mit seiner Lampe das Schlüsselloch auszuleuchten. Max Grießer nahm seine Lampe, und leuchtete so gut, dass Gerlindes Säge schnell die Drähte fand. Mit langsamen Bewegungen führte sie beide Kabel zeitlupenartig zueinander, bis eine heftige Stichflamme sich bildete, die schnell wieder erlosch. Gerlindes Hand zog ihr Messer blitzartig zurück.

Einige Sekunden später griff Gerlindes Hand zur Türklinke, die sie sanft herunterdrückte. Ein knarrendes Geräusch verriet allen, das die Tür sich langsam öffnete, und eine Menge Öl brauchte.

„Darf ich sie bitten, diese bescheidene Kemenate zu betreten“, sagte Gerlinde mit Grandezza, und verbeugte sich nach altmodischer Art mit einem Hofknicks.

„Ich wusste gar nicht, das du so was kannst“, bemerkte Nora, und Anna fügte hinzu: „Wo hast du das nur gelernt?“

„In der Theatergruppe meiner Schule“, erwiderte Gerlinde. „Da haben wir vor allem Shakespeare und Tennessee Williams gespielt. Und eine Frau dort brachte uns das bei! Wie du siehst, kann frau auch so was manchmal brauchen!“

Sie traten durch die Türe ein, und bemerkten nicht, wie ein unsichtbarer Schatten eines Dämonenhelfers ihnen folgte.

Jochen folgte jede ihrer Bewegungen. Er sah, wie Nora an der Nordseite des Kellers ein Pentagramm, das Schutz geben sollte. An der Ostseite legte sie zwei Kerzen in einen Kreis, den sie mit Kreide auf den Boden zeichnete. Auf der Südseite des Kellerraums legte sie ein Bild der Göttin, das sie einmal in einem Zeitungsausschnitt über matriarchalische Kulturen in der heutigen Zeit gefunden hatte. Und an der Westseite der Wand legte sie die Athalme, das heilige Ritualmesser. Gerlinde holte das „Buch der Schatten“ aus ihrem Rucksack, und schlug

eine Seite auf.

Der Atem des Dämons stockte.

Das „Buch der Schatten!“

Wenn ich das noch mit dem anderen Orakel mitbringe, wird Hanim mich bestimmt befördern. Ich weiß doch, wie sehr er hinter dem Buch her ist!

Er spürte, wie seine Augen vor Gier an Röte zunahmen.

Bald wird alles mein sein, sinnierte er!

Nur noch wenige Minuten, bis sie das Orakel gefunden haben!

Er beobachtete, wie die drei Hexen ein Mantra sangen, das sich immer wieder wiederholte. Der Inhalt war, den Schutz des Orakels aufzuheben, und das Orakel aus seinem Versteck zu holen. Aus der Althalme kam ein dünner Strahl, der sich mit dem Pentagramm, dem Bild der Göttin und dem Pentagramm verband, und gemeinsam zu dem Kreis führte, in denen die beiden Kerzen vor sich hin brannten.

Plötzlich bildete sich ein beißend weißer Rauch, der sich in die Richtung bewegte, die dicht neben dem Pentagramm lag. Wenige Sekunden später, die allen wie Stunden vorkamen, lag plötzlich das Orakel von Delphi in mitten des Kreises.

„Das ist ja Zauberei“, entfuhr es dem Wachmann!

„Nein, nur weiße Magie von drei Hexen“, erwiderte Nora.

Der Wachmann zitterte.

Er fürchtete sich, das bemerkte Nora. Anna und Gerlinde sahen es ebenfalls, und so begab sich Gerlinde zu ihm hin, und versuchte ihn durch eine Umarmung zu trösten.

Tausend Gedankenblitze durchzuckten ihren Körper. Nora, die das mitbekam, fragte sie: „ Was hast du gesehen?“

„Einen Dämon“, erwiderte sie.

„Der Wachmann ein Dämon? Bist du sicher“, fragte Anna?

„Nicht dieser, aber er hat Kontakt zu einem! Ein junger Mann mit roten Haaren, Sommersprossen und einer schlanken Figur, der...“

„... Direkt hinter euch steht, und euch das Orakel und das „Buch der Schatten“ wegnehmen wird!“

Der Dämon wurde plötzlich sichtbar, und stellte sich hinter Max Grießer, dem Wachmann, der ihnen geholfen hatte. Sein kräftiger linker Arm legte sich wie ein Schraubstock um seinen Hals, während seine linke Hand eine Pistole hielt.

„Her mit dem Orakel und dem Buch! Sonst bekommt er eine Kugel verpasst!“

 

 

Nora blickte sich um.

Aber sie fand nichts, was sie hätte als Waffe gegen den Dämon benutzen können! Nur alte Aktenschränke und schwere Bürotische. Ihr Blick fiel auf die Althalme, die auf dem Boden in mitten des Pentagramms lag. Sie konzentrierte sich auf das Ritualmesser, und darauf, es dem Dämon mitten in sein Auge zu stoßen, um ihn zu töten. Denn er war größer als der Wachmann, und seine Augen boten ein hervorragendes Ziel! Doch das Messer bewegte sich keinen Zentimeter.

Ich dumme Kuh, überlegte sie! Natürlich bewegt es sich nicht, wenn es inmitten des Pentagramms liegt, wo es vor allen magischen Strömungen sicher war.

Jemand muss das Messer da raus holen, überlegte sie! Sie stupste Anna, von dem Dämonen unbemerkt an, und auf Annas erstaunten Blick hin, deuteten ihre Augen zu dem Pentagramm und dem Ritualmesser.

Anna verstand sofort.

Und Gerlinde, die Noras Blick ebenfalls auffing, verstand.

Sie blickte den Dämon an, und sagte: „ Wenn du es willst, warum holst du es dir nicht

selbst?“

Sie ging einen Schritt auf den Dämon zu, und verdeckte so seinen Blick auf das Pentagramm.

„Weil du es mir holen wirst, Hexe“, sagte der Dämon.

„Und, wenn ich das nicht will?“

„Willst du denn, dass dieser Mann hier stirbt?“

„Wenn es dir Spaß macht? Nur zu! Wir brauchen ihn nicht mehr“, sagte sie, und versuchte, ihre Stimme so unbeteiligt wie möglich klingen zu lassen. Seine Pistole drückte sich eng an den Kopf des Wachmannes, dessen Schweiß in Strömen runterlief.

Er hatte Angst!

 

 

Mit langsamen Schritten bewegte sich Anna, die dem Pentagramm am nächsten stand, auf die Althalme zu. Dann, nach wenigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hatte sie das Ritualmesser erreicht, und schob es langsam unter ihren Füßen aus dem Pentagramm heraus.

Sie nickte Nora zu, die sich auf das Messer konzentrierte, und sich vorstellte, wie das Messer in das Auge des Dämons flog.

Sie zögerte!

Gerlinde stand genau in der Wurfbahn des Messers.

„Gerlinde, lass doch den Typ“, sagte Anna. „Geh doch lieber von ihm fort, bevor du an seinem Gestank noch eingehst!“

„Du hast recht“, erwiderte Gerlinde, die Annas Hinweis sofort verstanden hatte. Sie drehte sich um, und achtete peinlich darauf, dass sie an die Seite ging, um Noras Wurf mit dem Messer nicht zu verhindern.

Das Ritualmesser bewegte sich. Nora fokussierte sich auf das Auge des Dämons, und plötzlich, wie von Geisterhand geführt, flogen die Althalme in das rechte Auge des Dämons, der überrascht und voller Schmerz aufschrie.

Er lockerte den Griff um den Wachmann, der sich sofort daraus befreite und ins angrenzende Zimmer lief.

Aus der Waffe des Dämons lösten sich zwei Schüsse, während er sich in Luft auflöste, und nur seine Uniform und das Ritualmesser, das unter seiner Dienstmütze hervorlugte, zurück ließ.

„Guter Wurf, Schwester“, sagte Anna. „Hast du nicht Lust, im Zirkus als Messerwerferin aufzutreten? Ich stelle mich auch gerne zur Verfügung.“ Sie ging zu dem Platz, an dem bis vor kurzem der Dämon stand, und hob die Althalme auf, die sie Nora reichte.

„Was hab ich gezittert, als ich mitbekam, was ihr vorhattet“, meinte Gerlinde, die das Orakel von Delphi und das Buch der Schatten aufhob, und das Orakel Nora gab, die sie in ihre Hosentasche steckte.

Der Wachmann kam, nachdem er mitbekommen hatte, wie der Dämon ums Leben gekommen war, in den Raum, in dem er bis vor kurzem noch festgehalten wurde.

„Wwwwas wwwwaaaaar ddddddas“, fragte er.

„Sollen wir es ihm sagen“, fragte Gerlinde Anna und Nora?

„Besser nicht“, meinte Anna! „Sonst müssten wir ihm auch erklären, wer wir sind, und er könnte das ausplaudern. Er ist ein Mann, Gerlinde! Vergiss das nicht! Er würde allen das erzählen, um sich wichtig zu machen!“

„Sie hat recht, Gerlinde“, erwiderte Nora! „ Er würde reden!“

„Aber ganz bestimmt nicht, meine Damen“, erwiderte der Wachmann. „Ich werde schweigen wie ein Grab!“

„Da wirst du auch hinkommen, wenn du dein Wort nicht hältst“, sagte Anna, und blickte den Wachmann so grimmig an, dass dieser vor Angst schlotterte!

„Ich glaube, wir sollten ihn alles vergessen lassen, was er hier gesehen hat“, sagte Gerlinde.

„Kannst du das?

„Aber sicher, Nora! Ich habe das schon zu einer Zeit benutzt, als ich noch in der

Hexenausbildung war!“

„Gut, dann mach es“, sagte Nora, nachdem Annas Blick durch lautloses nicken ihre

Zustimmung geäußert hatte.

Gerlinde nahm die Hand des Wachmannes, und führte ihn zu einem der vielen Bürotische. Sie

deutete ihm, sich auf den Stuhl zu setzen, und nahm an einer Ecke des Tisches platz. Ihr Blick

fokussierte den Wachmann, der sich auf seinem Platz unruhig hin und her schob.

Er hatte Angst! Wurde er doch Zeuge, wie ein Dämon, an dessen Existenz er bis dato nie

glaubte, von einen der drei Frauen umgebracht wurde. Würden sie mich auch töten, überlegte

er? Immerhin habe ich gesehen, wie sie getötet haben!

„Hab keine Angst, Max“, klang beruhigend die Stimme Gerlindes! „Dir wird nichts geschehen, außer, das wir dir die Erinnerung an diese Nacht nehmen werden, damit niemand, der es nicht wissen darf, etwas von uns erfährt.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Dann mussten wir dich töten“, sagte Anna grimmig. „Und mir würde das nichts ausmachen!“

Angstschweiß rann über das Gesicht von Max Grießer.

„Gut, dann macht es“, sagte er. „Wird es wehtun?“

„Nein“, erwiderte Gerlinde. „Es wird so sein, als ob du aus einem tiefen Schlaf erwachen würdest.“

Erleichtert atmete der Wachmann auf.

Sie nahm aus ihrer Jeanstasche ein Feuerzeug, das sie anmachte, und vor den Augen des Wachmannes hin und her bewegte.

„Konzentriere dich auf die Flamme, Max! Sehe die Flamme, deine Augen werden schwerer und schwerer. Dein Körper wird schwerer und schwerer. Du wirst alles vergessen, was sich an diesem Abend ereignet hat. Du wirst gleich aufstehen, und zu deinem Wachmannplatz gehen, und wenn du ein lautes klingeln hörst, wirst du erwachen, und dich an nichts mehr erinnern!“

„Ich werde mich an nichts mehr erinnern“, erwiderte der Wachmann tonlos.

„Nun, dann stehe auf und gehe zur Treppe, und dann hinunter zu deinem Platz!“

„Ich gehe hinunter!“

Er stand auf, und wie in Trance ging er langsam zur Treppe. Die Augen der drei Hexen folgten ihm, bis er aus ihrem Blickwinkel verschwand.

„Nun aber los“, sagte Nora! „Oder soll deine Kollegen uns erwischen?“

„Nein, aber es würde viel zu lange dauern, wenn wir bis nach oben laufen, die Drachen wieder aufzubauen, den wind erneut zu rufen, und ungesehen zu verschwinden.“

„Du hast recht, Anna“, erwiderte Gerlinde. „Was schlägt ihr vor?“

„Wir verschwinden einfach durch die Tür“, sagte Anna, „und zwar so schnell, wie unsere Füße laufen können. Und sind wir dann draußen, holt Nora mit ihrer Gabe die Drachen vom Dach herunter“. Sie blickte Nora fragend an. „Meinst du, dass du das schaffen kannst?“

„Ist der Kanzler ehrlich? Natürlich schaffe ich das! Ich muss nur genau unter der Stelle stehen, wo die Drachen liegen“.

„Das, denke ich, können wir schaffen“ erwiderte Anna. „Also, dann nichts wie raus hier!“

Sie liefen. Vorbei an Gemälden, weiß gestrichenen Torbögen und Sitzgruppen, die an mehreren Stellen herumstanden. Von der Ferne hörten sie, wie mehrere Polizeiwagen mit Martinshorn und Lichthupe auf das Gelände der Staatskanzlei einfuhren.

„Scheiße“, entfuhr es Anna! „Mussten die Kollegen ausgerechnet jetzt kommen, und uns den Weg nach draußen versperren?“

„Nach oben“, sagte Gerlinde, „nur in der ersten Etage können wir noch durchs offene Fenster flitzen!“

„Meinst du das Zimmer, wo wir uns vor dem Wachmann versteckten?“

Genau“, erwiderte Gerlinde.

So schnell ihre Füße sie tragen konnten, liefen sie hinauf. Das laute Läuten einer Klingel

dröhnte an das Ohr der drei Frauen. Der Wachmann war jetzt aus seinem Schlaf erwacht, und

konnte sich an nichts mehr erinnern.

Sie standen vor der Tür des Zimmers, das im altbayrischen Stil gehalten war, und stürmten, nachdem sie die Tür geöffnet und wieder geschlossen hatten, zum Fenster. Anna, deren sportliche Figur ihr einen leichten Vorsprung vor den anderen Frauen ankam, blickte herunter.

Eine Regenrinne verlief wenige Zentimeter neben dem geöffneten Fenster nach unten. Anna schauderte. Mist, dachte sie! Jetzt spielt mein Kreislauf auch noch verrückt! Ausgerechnet jetzt!

„Was ist“, fragte Gerlinde besorgt, die bemerkte, dass Annas Gesicht kalkweiß wurde? „Ist

was mit deinem Kreislauf?“

„Ja, aber da muss ich jetzt durch! Zumindest, bis wir in Sicherheit sind!“

„Ich gehe als Erste“, schlug Nora vor, „und dann hole ich dich mit meiner Gabe langsam runter, damit du dich erholen kannst!“ Sie sah zu Gerlinde, deren massiger Körper ihr etwas Angst machte. „Meinst du, dass du es alleine schaffen wirst, herunterzukommen?“

„Ich denke schon“, erwiderte diese. „Wenn nicht, habe ich einen verdammt guten Grund, wieder mit dem abnehmen zu beginnen!“

Nora lachte.

„Pass gut auf dich auf, Schwester“, sagten Anna und Gerlinde gleichzeitig, während Nora, nachdem sie aus dem Fenster geklettert war, sich langsam an der Regenrinne festhaltend, sich nach unten schlängelte.

Sie kam sicher an.

Gerlinde gab Anna das Buch der Schatten. „Pass gut darauf auf“, sagte sie!

Noras gesamter Körper richtete sich auf, und sie konzentrierte sich auf Anna. Ihre linke Hand bewegte sich nach oben zu dem Fenster, und Anna schwebte, wie auf Wolken liegend, hinaus, und landete sanft auf dem Boden neben Nora.

Gerlinde hörte die tapsenden Schritte der Polizeibeamten, und, wie sie Türen öffneten und durchsuchten. Die Schritte kamen näher. So behände, wie niemand es ihr bei ihrem Gewicht zugetraut hätte, kletterte sie aus dem Fenster, lehnte es an, so das niemand auf den ersten Blick mitbekam, das es nicht verschlossen war; und rutschte die Regenrinne langsam herunter.

Und, oh Wunder, auch sie kam sicher unten auf dem Boden an. Das Fenster wurde geöffnet, und ein Polizist blickte heraus. Nora zerrte Anna und Gerlinde in einen toten Winkel der Kanzlei. Das Buch der Schatten fiel Anna aus der Hand, und blieb auf dem Boden liegen. Der Atem aller drei Frauen war ruhig und gleichmäßig, trotz der Anspannung, die in allen war, dass der Polizist das Buch entdecken würde.

Der Polizist verschwand.

„Wie geht es dir“, fragte Nora Anna besorgt?

„ Es geht“, erwiderte sie. „Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn ich beim Wohnmobil wäre, und meine Medizin hätte.“

„Gerlinde, nimm dir ein Taxi und fahr mit Anna zum Wohnmobil, damit sie schnell ihre Medizin bekommt. Ich hole noch die Drachen vom Dach der Kanzlei und komme dann nach!“

„Sollen wir dich nicht lieber abholen“, fragte Gerlinde? „Die Dinger sind doch verdammt schwer!“

„Gut“, erwiderte Nora. „Dann treffen wir uns an der Rückseite des Hauses der Kunst, dort, wo der Garten beginnt!“

Gerlinde hob das Buch der Schatten auf, und schloss es hinter ihrer Jacke ein.

Sie stützte Anna so gut sie konnte, und rief mit ihrem Handy, ein Taxi, das wenige Augenblicke später kam. Beide stiegen ein, und Nora blickte ihnen nach, als sie wegfuhren.

Ihr Atem entspannte sich.

Die beiden sind erst einmal in Sicherheit, überlegte sie. Jetzt muss ich nur noch diese

verdammten Drachen finden, und dann mache ich, dass ich von hier ne Fliege mache. Mir

wird es hier langsam zu ungemütlich!

Langsam ging sie um die Kanzlei, bis sie in die Nähe der Kuppel kamen, wo sie die Drachen versteckt hatten. Sie konzentrierte sich, und langsam, wie von Geisterhand getragen, schwebten die einzelnen Teile zu Boden. Nora band alles zu einem handlichen Paket zusammen, und schleppte alles über die Prinzregentenstrasse zum Haus der Künste, wo sie auf Anna und Gerlinde wartete, die wenige Minuten später mit dem Wohnmobil ankamen. Nachdem ein Blick Noras ihr zeigte, das es Anna wieder besser ging, verstauten sie und Gerlinde die Drachen, das Buch der Schatten und das Orakel, stiegen ein, und fuhren los.

Nora fuhr.

 

 

Alle drei Frauen waren guter Dinge, seit ihre Anspannungen sich gelöst hatten. Das Wohnmobil fuhr n Richtung Berlin. Die Autobahn war wieder einmal mit jeder Menge Autos vollgestopft, und es drohte ein Stau, so langsam wie alle vor dem Mobil fuhren.

„Ich bin sehr froh, dass wir drei alle es raus geschafft hatten! Ich hatte schon Sorge, das die Regenrinne unter deiner Last zusammenbrach, Gerlinde“.

„Das hatte sie auch fast, Nora“, erwiderte Gerlinde. „Es knarrte schon bedenklich!“

„Also wäre abnehmen wohl doch eine Alternative“, warf Anna ein, und grinste.

„Scheint so! Aber vielleicht sollten wir das Training gemeinsam machen, Anna? Du würdest auch etwas Sport brauchen können!“

„Wenn du deine ersten zehn Kilo verloren hast, gerne!“

„Versprochen?“

„Versprochen!“

„Gut, dann werden ich als erstes, wenn wir zu Hause angekommen sind, auf die Waage steigen. Ihr werdet mein Gewicht bezeugen können, und wenn ich zehn Kilo runter habe, hast du keine Ausrede, nicht mit dem Sport zu beginnen.“

Nora blickte Anna an.

Es stimmt schon, was Gerlinde sagte! Ein paar Kilo weniger würden Anna bestimmt gut tun, dachte sie! Und ihrem Kreislauf würde das bestimmt auch helfen, belastbarer zu sein. Ein roter Porsche, der sich auf der linken Fahrspur befand, wollte nach rechts wechseln, und blinkte. Nora drückte auf die Bremse, und ließ ihn einscheren.

Die Lichthupe des Porsches blinkte als Dank zweimal auf.

„Nora“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter flüsternd. „Ich werde gleich erscheinen. Also erschreck dich nicht, und bereite deine Freundinnen darauf vor.“

Dann verschwand die Stimme.

Nora stoppte den Wagen, und blickte beide Frauen an.

„Ich muss euch was sagen“, begann sie, und legte den ersten Gang ein. „Meine Mutter wird gleich erscheinen, also erschreckt nicht!“ Sie drückte die Kupplung durch, und ließ sie leicht nach oben kommen, während sie gleichzeitig das Gaspedal drückte, und der Wagen sich langsam in Bewegung setzte.

„Vor was sollten wir Angst haben“, entgegnete Anna? „Wir kämpfen gegen Dämonen und gewinnen“

„Oder sieht deine Mutter so schrecklich aus“, warf Gerlinde ein?

„Nein, Gerlinde! Sie ist die wundervollste und schönste Frau, die es weder gab noch gibt!“

Plötzlich umhüllte Rauch den hinteren Teil des Wohnmobils. Die durchsichtige Gestalt einer älteren Frau stand vor ihnen, ganz in Weiß gekleidet und um ihre Hüfte die rote Kordel einer Priesterin der Göttin tragend.

„Hallo“, sagte die Gestalt. „Wie ich gehört habe, habt ihr alle das Orakel von Delphi in Sicherheit gebracht!“

„Ja“, erwiderte Anna.

„Und wo ist es?“

Gerlinde stand auf, und ging zum TV- Gerät, das in einem Schrank verstaut lag. Sie öffnete

das Gehäuse, und holte das runde Schmuckstück aus Stein hervor.

„Hier ist es“, sagte sie.

„Ich werde es im Schattenreich in Sicherheit bringen, damit kein Dämon es je missbrauchen kann“, sagte Noras Mutter.

Gerlinde blickte Nora an, die nickte. Daraufhin gab sie Noras Mutter das Orakel.

„Die Göttin dankt euch“, sagte sie, und, nachdem erneuter Rauch aufstieg, verschwand Noras Mutter aus ihren Blicken.

„Deine Mutter sieht dir sehr ähnlich“, sagte Anna. „Kein Wunder! Jetzt wissen wir, woher du seine Schönheit hast?“

Noras Gesicht wurde rot.

Sie mochte keine Komplimente von Frauen, besonders, wenn diese Frauen ihr gefielen, sie erotisch anzogen. Und Anna zog sie an!

Aber ich bin nicht lesbisch, sagte sie zu sich selbst! Ich liebe Männer!

Jemand hupte.

Sie war, ohne dass sie es bemerkt hatte, mit dem Wohnmobil stehen geblieben, und so warf sie den Motor erneut an und fuhr los.

„An was hast du gerade gedacht“, fragte Anna mit besorgtem Unterton?

„An nichts besonderes, Anna! An nichts Besonderes!“

 

 

Soeben hatte sie die Stadtgrenze von Berlin passiert.

Gerlinde saß an dem Tisch und las im „Buch der Schatten“. Anna hatte Nora beim fahren abgelöst, da diese etwas Schlaf brauchte, und sich in das Bett über der Fahrerkabine gelegt hatte.

Aber sie schlief nicht!

Ihre Augen waren offen, und sie hörte den gleichmäßigen Fahrgeräuschen zu, während ihre Gedanken andauernd abschweiften.

Anna!

Sie musste andauernd an sie denken!

Sie liebte ihre Augen, die so schön geformt waren. Ihre kurzen roten Haare und ihr breites Gesicht. Sie liebte ihre Hände und die Art, wie sie mit anderen Frauen umging. Sie schätzte ihren Humor und ihre Stärke, und die Art, wie sie kämpfte.

Sie schloss die Augen, und stellte sich vor, wie Annas Hände sie berührten. Wie sie ihrem Hals entlang zu ihren Brüsten wanderten, und ihren Bauch berührten. Ein süßer Schauer durchzuckte sie.

Sollte ich es einmal versuchen, überlegte sie? Vielleicht bin ich ja nicht heterosexuell, sondern bi?

 

 

Gerlinde blickte Anna an, die gerade in eine Strasse einbog.

Sie wusste, das es nur noch wenige Minuten dauern würde, bis Anna sie an ihrer Wohnungstür aussteigen lassen würde.

Alles in ihr sträubte sich dagegen! Sie wollte in ihrer Nähe sein, und wusste doch, dass sie dieses Gefühl in sich nie zulassen dürfte!

Ich liebe sie wirklich, sagte sie zu sich! Aber sie wird mich nie lieben können! Sie hat mich zwar als Mithexe akzeptiert, aber sie könnte mich NIE als Partnerin akzeptieren! Also ist es das beste für alle Beteiligten, wenn ich dieses Gefühl nicht zulasse!

„Wir sind da“, sagte Anna, und hielt das Wohnmobil an.

Gerlinde nahm das „Buch der Schatten“ an sich, ging zu  Anna, und umarmte sie.

„Pass gut auf dich auf, und komm gut nach Hause“, sagte sie.

„Du auch“, sagte Anna, und erwiderte die Umarmung.

Gerlinde stieg aus, und schloss die Beifahrertür des Wohnmobils, und ging auf ihre Wohnungstür zu.

Anna blickte ihr nach, und als sich Gerlindes Wohnungstür schloss, fuhr sie los, um Nora nach Hause zu bringen.

 

 

Die Straßen Berlins waren fast menschenleer.

Mehrere Fußgänger, die an einer roten Ampel standen, und darauf warteten, dass sie die Straße überqueren konnten, sahen sie teilnahmslos an, als sie an ihnen vorbeifuhr. Alle schienen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt zu sein, genauso wie Anna, die in sich hin- und hergerissen schien.

Sabine!

Wie sehr liebe ich sie immer noch, dachte sie?! Ich sehne mich so nach ihr! Ihrer trockenen humorigen Art, ihren zarten Händen, ihrer sehr fraulichen Figur, und dem Sex mit ihr. Besonders der Sex mit ihr!

Nora!

Etwas an ihr zog sie an, das spürte sie!

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Eine Hete, überlegte sie. Ich beginne, mich in eine Hete zu verknallen! Scheiße auch!

Dabei müsste ich doch aus eigener Erfahrung wissen, das, sich in eine Hete zu verlieben, nur Ärger und Verdruss einbringt!

Ihre Gedanken wanderten zurück zu einer ihrer ehemaligen Geliebten!

Hertha!

Sie hatte Hertha kennen gelernt, als sie einen Kurs an der Abendschule besuchte, um ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Hertha war ihre Lehrerin, verheiratet und Mutter zweier Kinder, einem Jungen und einem Mädchen.

Es dauerte nicht lange, und die Klasse traf sich beim um die Ecke liegenden Italiener zu einem gemütlichen Abend. Hertha setzte sich dabei oft neben Anna hin, und wie zufällig berührte sie Anna dabei.

Sie fühlte sich von ihr angemacht, und da sie zu dieser zeit solo war, ließ sie sich auf eine Affäre mit Hertha ein. Und, sie verliebte sich in Hertha.

Und dann sagte sie es ihr, und bat sie, eine Entscheidung zu treffen. Hertha sagte ihr, das sie wisse, das sie Frauen liebt, aber ihren Mann nicht verlassen könne, weil so viel davon abhinge. Gesellschaftlicher Status, finanzielle Sicherheit, und ihre Kinder, die sie verlieren würde.

Sie trennten sich.

Und sie litt darunter, dass sie Hertha gehen lassen musste.

Ein Jahr später sah sie Hertha wieder. Sie besuchte gerade mit Sabine eine Lesbenbar, das „Pour Elle“. Hertha tanzte gerade eng umschlungen mit einer Frau in mittleren Jahren, unzweifelhaft eine Butch wie sie. Sie bemerkte sie nicht, oder wollte sie nicht bemerken.

„Komm, lass uns gehen“, sagte sie damals zu Sabine. „Mir gefällt es heute nicht hier!“ Und so gingen beide.

Und auch heute noch, nach all den Jahren, schmerzte sie die Erinnerung!

Nein, überlegte sie, das will ich nie wieder erleben!

Und ihr Herz verschloss sich.

 

 

Noras Mutter wanderte durch einen langen Gang, der mit antiken Statuen verschiedenster Göttinnen geschmückt war. Ihr kamen zwei in Weiß gekleidete Frauen entgegen, die nacheinander ihre Stirn, ihre Brüste, ihren Bauch und ihre Hände und Füße küssten.

„Ich trete ein, in vollkommener Liebe und mit vollkommenem Vertrauen“, sagte sie, und die

beiden Frauen stellten sich an ihre Seite, und geleiteten sie zu einem Tor, das vor ihnen stand.

Das Tor öffnete sich, und eine Frau undefinierten Alters, in einem weißen wallenden Gewand stand vor ihr.

„Hast du das Orakel mitgebracht“, fragte sie?

„Ja, Königin des Lichtes und Herrin der Dunkelheit“, entgegnete Noras Mutter.

„Dann gib es mir“, sagte die Göttin.

Noras Mutter holte das Orakel aus der versteckten Innentasche ihres Kleides, und übergab sie der Göttin, die sie in eine Wolke legte, einen Spruch murmelte, worauf hin die Wolke ins Nichts verschwand.

„Das Orakel ist nun in Sicherheit, meine Tochter“, sagte die Göttin, und umarmte Noras Mutter.

„Ja Mutter“, erwiderte Noras Mutter. Ihr Blick sagte der Göttin, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte.

„Was ist, meine Tochter?“

„Herrin, meine Tochter ist schon so lange allein. Kann die Liebe nicht bald an ihre Tür klopfen?“

„Meine Tochter, die Liebe klopft oft an die Türe deiner Tochter. Ihr Herz ist im Moment nur so schwer verletzt, das sie die Tür nicht öffnen kann. Aber eines Tages wird sie soweit sein.“

„Danke, Mutter“, erwiderte Noras Mutter, und verabschiedete sich.

„Sei gesegnet, meine Tochter“, sagte die Göttin, als sich das Tor zu ihrem Raum schloss.

Auf der Erde, in verschiedenen Stadtteilen Berlins, träumten drei Frauen von der Liebe, einer Liebe, die einer anderen Frau galt. Eine Liebe, von der niemand wusste, ob sie sich je erfüllen würde.

 

 

 

ENDE

 

 

Werden Nora und Anna ein Paar?

Werden Anna und Gerlinde zusammenkommen?

Wird Noras Ex, Nick, wieder einmal versuchen, die drei Hexen zu zerstören?

Was ist mit Annas Kreislaufproblemen?

Vielleicht gibt es in der nächsten Folge auf all diese Fragen eine Antwort, wenn Ihr wieder eine weitere Folge der „MACHT DER DREI HEXEN“ lest?

 
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